Als Gödel sein Theorem im Jahr 1931 formulierte, wurde es von vielen Mathematikern wie eine vernichtende Niederlage aufgenommen. Hilberts Vision war gescheitert. Und dennoch ist die Mathematik seitdem keineswegs tot, sondern sogar sehr lebendig. Was also bedeutet Gödels Theorem? Was für Schlussfolgerungen lassen sich aus ihm ziehen?
Nun ist diese Frage natürlich nicht neu. Sehr viele große (und auch weniger große) Denker haben darüber nachgedacht und auch teilweise engagiert darüber gestritten. Daher sind die folgenden Überlegungen nicht von mir erfunden worden – ich habe einfach versucht, die Ideen zusammenzutragen und noch einmal zu durchdenken, die mir persönlich plausibel erscheinen.
Über die Bedeutung von Gödels Theorem kann man in verschiedenen Zusammenhängen nachdenken. Ich möchte im folgenden drei Zusammenhänge einzeln betrachten:
Gödels Satz bedeutet zunächst einmal, dass Hilberts Vision nicht durchführbar ist. Hinreichend starke formale Systeme sind prinzipiell unvollständig, d.h. es gibt Aussagen, die sich innerhalb des Systems weder beweisen noch widerlegen lassen. Außerdem gibt es keine allgemeine Vorgehensweise (Entscheidungsverfahren), mit der man für beliebig vorgegebene Aussagen des Systems entscheiden kann, ob sie beweisbar sind oder nicht. Noch nicht einmal die Widerspruchsfreiheit des formalen Systems kann innerhalb des Systems bewiesen werden.
Beweisbarkeit ist also kein ausreichendes Mittel, um die Wahrheit jeder beliebigen mathematischen Aussage mechanisch ermitteln zu können. Hilberts Idee, dass nur das als wahr gelten kann, was beweisbar ist, greift zu kurz. Wahrheit lässt sich nicht mathematisch auf Beweisbarkeit zurückführen. Dies zeigt, dass Wahrheit ein intuitives Konzept ist, das sich nur unvollständig mathematisch abbilden lässt.
Meist wird dies als Unzulänglichkeit der Mathematik dargestellt. Mathematik kann nicht alle Wahrheiten herausfinden – und oft wird unterstellt, dass wir Menschen Wahrheit besser erkennen können als die Mathematik dies vermag. Doch gibt es so etwas wie objektive Wahrheit überhaupt? Wir gehen weiter unten genauer darauf ein.
Statt Gödels Satz als einen Beleg für die Begrenztheit der Mathematik anzusehen, kann man ihn auch als Indiz für die Anpassungsfähigkeit und Erweiterbarkeit der Mathematik betrachten. Die Mathematik ist zwar unvollständig oder widerspruchsvoll, aber dadurch auch unbegrenzt. Sie ist beweglich und kann erweitert werden, z.B. durch neue Axiome. Dadurch wird Platz geschaffen für neue Interpretationen der mathematischen Begriffe (z.B. für übernatürliche Zahlen) und damit für neue Anwendungen. Man kann es auch so sehen: die Mathematik ist flexibel genug, um neue, noch unscharfe intuitive mathematische Ideen aufzunehmen und zu präzisieren.
In jedem mathematischen System wird es Fragestellungen geben, zu deren Lösung neue Ideen und Konzepte notwendig sind. Es gibt keine fertige, allumfassende mathematische Ideenwelt. Man könnte sagen: "Auch Gott kennt nicht alles, was mathematisch möglich ist" – genauso, wie er auch den Ort eines Elektrons in der Atomhülle nicht kennt. Keine Sammlung von mathematischen Ideen und Methoden kann alle denkbaren mathematischen Fragestellungen beantworten. Um neue Probleme zu lösen, braucht man auch neue Ideen und Methoden. Mathematik ist wie ein Perpetuum Mobile – eine nie endende Herausforderung und eine unerschöpfliche Quelle für neue Ideen. Insofern ist Mathematik eine sehr kreative Umgebung!
Viele Mathematiker erwarten sogar, dass Gödels Theorem die Art beeinflussen wird, wie Mathematik betrieben wird. Angenommen, man formuliert eine Hypothese, die sich als sehr fruchtbar erweist, und die sich – u.a. mit Hilfe von Computern – bei allen untersuchten Beispielen verifizieren lässt. Das einzige Problem ist, dass niemand einen Beweis für die Hypothese finden kann. Darf man dennoch diese Hypothese als wahr betrachten?
Vermutlich wird man hier bisweilen einen pragmatischen Weg beschreiten. Man wird die Hypothese als Arbeitsgrundlage akzeptieren – auch ohne Beweis. Gödels Satz zeigt ja, dass man nicht für jede Hypothese Beweisbarkeit erwarten kann. Eventuell ist sie unabhängig von den vorhandenen Axiomen und muss als weiteres Axiom hinzugefügt werden. Solange kein Beweis gelingt, wird man versuchen, die Hypothese mit Hilfe umfangreicher Computerberechnungen möglichst umfassend zu verifizieren. Das bedeutet, dass man möglichst umfassend nach Gegenbeispielen zu der betrachteten Hypothese sucht. Falls die Hypothese tatsächlich nicht entscheidbar (also aus den Axiomen weder beweisbar noch wiederlegbar) ist, so darf es keine Gegenbeispiele geben, denn sonst wäre sie wiederlegbar. Die Mathematik gewinnt damit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Physik. Man führt (Computer)-Experimente durch, um eine Theorie zu untermauern. Man könnte diese Vorgehensweise als experimentelle Mathematik bezeichnen.
Es kann sehr nützlich sein, eine fruchtbare Hypothese als zusätzliche Arbeitsgrundlage zur Verfügung zu haben. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Riemannsche Hypothese in der Zahlentheorie, von der heute niemand einen Beweis kennt, die sich aber als extrem nützlich erwiesen hat. Mit ihr lassen sich wichtige Schlussfolgerungen für die Verteilung der Primzahlen unter den natürlichen Zahlen herleiten. Die Riemannsche Hypothese ist eines der sieben Millennium-Probleme, für deren Lösung jeweils eine Million Dollar ausgesetzt sind. Wir gehen in einem späteren Kapitel noch darauf ein.
Eine mathematische Begründung dafür, dass das Hinzunehmen zusätzlicher Axiome sehr hilfreich sein kann, liefert Gödels Satz über die Länge von Beweisen aus dem Jahr 1936 (Siehe z.B. Wikipedia: Gödel's speed-up theorem ). Gödels Satz besagt folgendes:
Wir betrachten ein formales formales System
Nun erweitern wir das formale System
Wir geben nun irgendeine berechenbare Funktion
Die Bedeutung dieses Ergebnisses liegt darin, dass es auch für Funktionen gilt,
die aus großen Zahlen sehr kleine Zahlen machen, z.B.
Dieser Satz legt nahe, dass sich Beweise durch Hinzunahme eines Axioms stark vereinfachen können. Genau dies beobachtet man beispielsweise in der Zahlentheorie, wenn man die Riemannsche Hypothese als Voraussetzung zulässt.
Gödels Satz sagt, dass mathematische Beweisbarkeit kein ausreichendes Mittel ist, um die Wahrheit mathematischer Aussagen immer mechanisch ermitteln zu können. Dies wird deutlich bei der Gödelschen Aussage G, die wir interpretiert haben als "ich bin nicht beweisbar".
Wir konnten zeigen: Wenn die Peano-Arithmetik widerspruchsfrei ist, so
kann
Doch sind wir damit wirklich dem formalen System überlegen, das
Aber die Widerspruchsfreiheit der Peano-Arithmetik ist eine innerhalb der Peano-Arithmetik unbeweisbare Hypothese (die Widerspruchsfreiheit der Peano-Arithmetik lässt sich zwar in der Mengenlehre beweisen, aber ist die Mengenlehre widerspruchsfrei?). Wir haben zwar das Gefühl, dass die Peano-Arithmetik widerspruchsfrei sein müsste, aber wir wissen es nicht. Die Axiome sehen alle einleuchtend und zwingend aus, aber das ist keine Garantie für die Widerspruchsfreiheit.
Es gibt in der mathematischen Geschichte Beispiele dafür, wie ein vollkommen zuverlässig aussehendes Axiomensystem plötzlich zusammenbrach, als überaschende Widersprüche entdeckt wurden. So versuchte der Mathematiker Gottlob Frege um das Jahr 1900 herum, die Grundlagen der Arithmetik in einem Axiomensystem auf Basis der Mengenlehre sauber zu erfassen. Als im Jahr 1902 das endgültige Werk Grundgesetze der Arithmetik, begriffsschriftlich abgeleitet fertig zum Druck war, zeigte B.Russel, dass sich ein Widerspruch aus den Axiomen herleiten ließ. Ähnlich erging es Cantor bei der Formulierung seiner Version der Mengenlehre.
Da wir nicht wissen können, dass die Peano-Arithmetik widerspruchsfrei ist,
können wir auch nicht wirklich sicher, ob
Außerdem können wir auch
Ich möchte diesen Punkt an einem bekannten Beispiel verdeutlichen. Um das Jahr 1637 formulierte der "Fürst der mathematischen Amateure" Pierre de Fermat seine berühmt gewordene Vermutung (siehe z.B. das wunderbare Buch Fermats letzter Satz von Simon Singh):
So ist die Gleichung
Versucht man dasselbe mit Würfeln, so gelingt es nicht, die kleinen Einheitswürfel von zwei
daraus zusammengesetzten Würfeln zu einem neuen Würfel zusammenzusetzen, ohne dass
kleine Einheitswürfel übrig bleiben oder fehlen.
Die Gleichung
Auch für andere Werte des Exponenten
Nun gelang es im Jahr 1994 – also nach mehr als 350 Jahren – in einem mehr als siebenjährigen Kraftakt dem englischen Mathematiker Andrew Wiles tatsächlich, Fermats Vermutung zu beweisen. Der Beweis umfasst etwa 130 Seiten und verwendet die modernsten verfügbaren Methoden der Zahlentheorie. Der Beweis war also eine wirklich harte Nuss, und die Komplexität des Beweises legt die Vermutung nahe, dass die Fermatsche Vermutung nicht mehr allzuweit davon entfernt ist, eine unbeweisbare Aussage im Sinne Gödels zu sein. Etwas kompliziertere Gleichungen überschreiten dann auch diese Grenze und werden tatsächlich unentscheidbar (wir kommen im Kapitel über diophantische Gleichungen noch einmal darauf zurück).
Nehmen wir einmal an, Fermats Vermutung wäre tatsächlich unentscheidbar gewesen. Dann wären alle Bemühungen, einen Beweis aufgrund der vorhandenen Axiome zu finden, auf ewig zum Scheitern verurteilt gewesen. Andererseits könnte man aber auch niemals ein Gegenbeispiel finden, denn sonst wäre Fermats Vermutung ja wiederlegbar und damit entscheidbar.
Angenommen, wir könnten beweisen, dass Fermats Vermutung unentscheidbar ist (Widerspruchsfreiheit der Axiome vorausgesetzt). Ist sie damit wahr oder falsch?
Aus der Tatsache, dass Gegenbeispiele ausgeschlossen sind, könnten wir folgern, dass sie wahr sein muss. Das stimmt auch, wenn wir damit meinen, dass keine Nachfolger der Zahl Null (also keine der üblichen natürlichen Zahlen) die Gleichung lösen können. Nicht-Entscheidbarkeit einer Aussage würden wir dann als Wahrheit der Aussage interpretieren, d.h. wir würden eine Aussage als wahr ansehen, wenn es unter den üblichen natürlichen Zahlen keine Gegenbeispiele gibt, auch wenn wir wissen, dass die Aussage nicht beweisbar ist. Fermats Vermutung wäre damit zwar unbeweisbar, aber dennoch wahr.
Wir könnten aber auch anders vorgehen.
Wir könnten versuchen, den Begriff der natürlichen Zahlen so zu erweitern, dass
die Gleichung
Letztlich ist der Begriff der Wahrheit ein unscharfes intuitives Konzept. Beweise innerhalb formaler Systeme sind der Versuch, dieses intuitive Konzept zu präzisieren, was aber nur bis zu einem gewissen Grad gelingt. Das Problem liegt darin, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Der Begriff der Wahrheit hängt von unserer Interpretation der betrachteten Begriffe ab.
Sogar bei den verwendeten Axiomen in einem formalen System ist keineswegs immer klar, ob wir sie für wahr halten sollen oder nicht.
Ein Beispiel:
In der Mengenlehre gibt es das sogenannte Auswahlaxiom. Dieses Axiom sagt folgendes:
Ist dieses Axiom wahr? Es erscheint uns selbstverständlich, dass wir aus jeder Menge ein Element auswählen können; also muss das auch bei einer Ansammlung von vielen Mengen möglich sein. Schauen wir uns einige Beispiele an:
Das Auswahlaxiom behauptet nun einfach, dass es immer eine Funktion gibt, die die Auswahl je eines Elements aus jeder Menge der Sammlung ermöglicht. Aber wir erhalten keinen Hinweis darauf, wie diese Funktion (d.h. wie der Auswahlmechanismus) definiert werden kann. Ein solches Axiom nennt man auch nicht-konstruktiv, denn es postuliert die Existenz von etwas, ohne uns zu sagen, wie wir es finden können.
Das Auswahlaxiom ist unabhängig von den anderen Axiomen der Mengenlehre (damit meinen wir die sogenannten Zermelo-Fränkel-Axiome). Es steht einem frei, das Axiom als wahr zu akzeptieren. Genauso gut können wir es aber auch als falsch ansehen und das Gegenteil zum Axiom machen.
Was sagt nun unser menschlicher Geist dazu? Ist das Axiom wahr oder falsch? Es hat unter den Mathematikern viele Diskussionen zu diesem Thema gegeben, die gezeigt haben, dass keineswegs klar ist, ob wir das Axiom als wahr oder falsch ansehen sollen. Die Mathematik lässt beides zu! Heute wird das Axiom zumeist akzeptiert – aus dem einfachen Grund, weil es den Umgang mit der Mengenlehre einfacher macht, denn das Auswahlaxiom wird für viele zentrale Sätze in verschiedenen mathematischen Bereichen benötigt (z.B. für den Satz "Jeder Vektorraum besitzt eine Basis"). Mathematiker müssen manchmal auch Pragmatiker sein.
Es gibt eine Reihe von mathematischen Aussagen, die gleichwertig zum Auswahlaxiom sind. Betrachten wir das Auswahlaxiom als wahr, so müssen wir auch diese dazu gleichwertigen Aussagen als wahr ansehen.
Eine solche gleichwertige Aussage ist der Wohlordnungssatz. Dieser Satz behauptet folgendes:
Der Wohlordnungssatz gilt beispielsweise für die natürlichen Zahlen, wenn man früher mit kleiner gleichsetzt. Diese Gleichsetzung funktioniert aber nicht bei den reellen Zahlen. So hat beispielsweise die Menge aller positiven reellen Zahlen (ohne Null) kein kleinstes Element. Es ist bis heute nicht gelungen, irgendeine Wohlordnung der reellen Zahlen zu finden.
Ebenfalls gleichwertig zum Auswahlaxiom ist das wichtige Zornsche Lemma. Da dieses Lemma etwas komplizierter darzustellen ist, wollen wir hier nicht genauer darauf eingehen (siehe z.B. Wikipedia: Lemma von Zorn ).
Wie steht es nun mit der Wahrheit dieser drei gleichwertigen Formulierungen? Der Mathematiker Jerry Bona hat es einmal sinngemäß so ausgedrückt:
"Das Auswahlaxiom ist offenbar wahr, der Wohlordnungssatz ist offenbar falsch, und wer kennt sich schon mit dem Zornschen Lemma aus?"
(im Original: "The Axiom of Choice is obviously true, the well-ordering principle obviously false, and who can tell about Zorn's lemma?", siehe z.B. Wikipedia: Axiom of choice, Quotes).
In Wahrheit sind natürlich alle drei Ausagen gleichwertig. Dies zeigt, wie schwierig und widersprüchlich es sein kann, ein Gefühl für die Wahrheit einer mathematischen Aussage zu entwickeln. Es ist für uns Menschen keineswegs immer offensichtlich, was wahr und was falsch ist. Mathematische Axiome und die daraus abgeleiteten Aussagen stellen im Grunde so etwas wie explizit formulierte Denkfreiheiten dar, mit denen innerhalb des Denkmodells namens Logik umgegangen wird. Der Begriff der Wahrheit kommt erst über Interpretationen ins Spiel (siehe Kap. 4.4).
Daher kann man meiner Meinung nach aus Gödels Satz auch nicht auf die Überlegenheit des menschlichen Geistes schließen. Der menschliche Geist arbeitet ganz anders als ein formales System der Mathematik. Er arbeitet mit unscharfen intuitiven Vorstellungen, mit Bildern, Assoziationen und impliziten Interpretationen. Daher ist nicht immer klar, was wir als wahr ansehen. Auch in der Mathematik gibt es unterschiedliche Ansichten über das, was richtig und zulässig ist. Was wir als wahr und zulässig ansehen, hängt dabei auch vom geschichtlichen und kulturellen Umfeld ab. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte genug:
Letztlich zeichnet sich Mathematik aus durch das Wechselspiel von intuitiven Ideen und dem Versuch, diese formal zu präzisieren. Dabei ist ein direkter Vergleich zwischen der menschlichen Intuition und der Präzision eines formalen Systems oder Computers problematisch. Beide besitzen eine ganz andere Arbeitsweise, und beide haben ihre Vorzüge und Nachteile. Erst das Zusammenspiel von Beidem macht die Mathematik so erfolgreich. Hier tritt übrigens ein interessante Analogie zu einer anderen sehr erfolgreichen Wissenschaft zutage: der Physik. Auch dort ist es das Zusammenspiel von Theorie (die wiederum das Zusammenspiel von Intuition und mathematischer Präzision ist) und Experiment, das zum Erfolg führt. Weder Theorie noch Experiment alleine wären in der Lage, die Naturgesetze aufzudecken. Hier zeigt sich auch ein Vorteil, den Mathematik und Physik (und auch die anderen Naturwissenschaften) gegenüber Geistes- und Sozialwissenschaften haben, denn diesen Wissenschaften fehlt häufig die Möglichkeit zur Präzisierung und Überprüfung der intuitiven Ideen – was diese Wissenschaften im Übrigen nicht abwerten soll!
Arbeitet der menschliche Geist algorithmisch? Auf der Ebene der Gedanken würde ich diese Frage verneinen, denn der menschliche Geist arbeitet nicht mit scharfen Begriffen, sondern mit unscharfen Konzepten, Intuition und Assoziationen. Das bedeutet aber nicht, dass das menschliche Gehirn nicht von den Gesetzen der Physik bestimmt wird. Nach allem, was wir heute wissen, gelten die physikalischen Gesetze auch für die Vorgänge in unserem Gehirn. Deshalb muss das Gehirn aber auf der Ebene der Gedanken nicht wie ein formales System (also wie ein Computer) funktionieren.
Ein Grund dafür ist, dass die grundlegenden physikalischen Gesetze nicht wie ein Computerprogramm festlegen, was genau passieren wird. Die Quantenmechanik lässt lediglich die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten zu, und die Natur scheint auch keine darunterliegende mechanistische Beschreibung ohne das Element des Zufalls zuzulassen. Daher lässt sich das, was physikalisch passiert, generell nicht durch ein formales System beschreiben. Höchstens für die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten ist dies eventuell möglich.
Ein weiterer Grund liegt darin, dass das Gehirn kein abgeschlossenes physikalisches System ist. Es steht ständig mit seiner Umwelt in Kontakt – zum Einen durch die Sinnesorgane, zum Anderen einfach durch den Hautkontakt mit dem uns umgebenden "Wärmebad". Daher unterliegt es sehr vielen unkalkulierbaren Einflüssen von außen. Nun ist das Gehirn andererseits ein sehr komplexes System mit vielen Rückkopplungen. Es ist daher zu erwarten, dass es teilweise nicht-berechenbar (chaotisch) auf diese äußeren Einflüsse reagiert.
Um nicht missverstanden zu werden: Es ist durchaus möglich, dass man irgendwann eine Computer-ähnliche Beschreibung des Gehirns finden kann, indem man die grundlegenden Prinzipien des Gehirns mathematisch beschreibt (man denke z.B. an das mathematische Modell der neuronalen Netze, das der künstlichen Intelligenz zugrunde liegt). Wie nahe man damit an axiomatisierte formale Systeme herankommt, ist heute unklar. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass Computer irgendwann Intelligenz entwickeln. So kann man bei heutigen kommerziellen Schachprogrammen auf schnellen Rechnern immer wieder beobachten, dass sie Züge finden, die man in gewissem Sinn als überraschend und genial bezeichnen kann. Ich habe einmal im Internet eine Life-Schachpartie zwischen einem Computer und einem Großmeister (ich glaube, es was Gulko) gesehen, in der der Computer in scheinbar ausgeglichener und langweiliger Stellung den Großmeister langsam aber sicher "zusammenschob", indem er geduldig kleine Ungenauigkeiten ausnutzte – so etwas kannte man früher nur von Weltmeistern wie Anatoli Karpow oder Capablanca.
Zusammengefasst bedeutet das: Unser menschlicher Geist ist zwar vermutlich durch die Gesetze der Physik bestimmt, aber er lässt sich – zumindest auf der abstrakten Ebene der Gedanken (nicht unbedingt auf der tieferliegenden Ebene der Neuronen) - wohl nicht direkt mit einem axiomatisierten formalen System oder einem Computer heutiger Bauart vergleichen. Er ist einem formalen System nicht überlegen beim Erkennen von Wahrheit, sondern er geht ganz anders an diese Frage heran, so dass sich menschliche Intuition und formale Präzision in der Mathematik gegenseitig ergänzen – was letztlich den Erfolg der Mathematik begründet.
Diese Frage lässt sich nach heutigem Wissensstand noch nicht beantworten, denn die grundlegende Theorie der Physik ist noch nicht gefunden, und es ist unklar, ob sie existiert. Nach heutigem Wissen muss eine solche Theorie jedoch auf den Grundlagen der Quantentheorie basieren. Sie kann daher nicht exakt voraussagen, was bei einem physikalischen Prozess passieren wird, sondern sie kann angeben, was alles im Prinzip passieren kann, und sie kann die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten dafür berechnen.
Die entscheidende Frage in einer solchen Theorie (wenn es sie denn gibt) ist dann folgende: Ist die Zahl der möglichen Weltgeschichten endlich oder unendlich, und kann jede Weltgeschichte durch endlich viele Parameter mit endlich vielen Werten beschrieben werden? Dabei ist eine Weltgeschichte ein nach der Theorie möglicher Ablauf der physikalischen Prozesse in der Welt vom Zeitpunkt ihrer Entstehung bis zum Zeitpunkt ihres Endes.
Falls diese Zahl endlich ist, ist Gödels Satz ohne Bedeutung für die Theorie, denn Gödels Satz setzt unendlich große formale Systeme voraus. Das bedeutet jedoch in der Praxis keineswegs, dass alles berechenbar ist. Auch ein Schachspiel ist ein endliches formales System, d.h. es gibt prinzipiell in jeder Stellung einen besten Zug. Dennoch ist in normalen Stellungen kein Computer der Welt in der Lage, ihn immer zu finden. Lediglich in Stellungen mit nur noch wenigen Figuren (z.B. König, Bauer und Turm gegen König und Turm) ist dies heute tatsächlich möglich, d.h. ein Computer kann solche Stellungen tatsächlich absolut fehlerfrei spielen.
Falls die Zahl der möglichen Weltgeschichten jedoch unendlich ist, so stellt sich die Frage: Benötigt man wirklich ein formales System, das die Peano-Arithmetik und die Logik (erster Ordnung) voll umfasst? So könnte es sein, dass auf mikroskopischer Ebene die Addition ausreicht, um die Theorie aufzustellen. Die Peano-Arithmetik ohne Multiplikation ist aber ein vollständiges formales System. Oder es könnte sein, dass man Freiheiten bei der Anwendung der Logik in Kauf nimmt. Man kann beispielsweise mit der sogenannten Logik zweiter Ordnung arbeiten – allerdings hat man dann auf eine vollständige Axiomatisierung der Logik verzichtet (Anmerkung: In der Logik zweiter Ordnung ist es auch erlaubt, Aussagen wie "für alle Eigenschaften gilt .." zu verwenden, also Quantoren nicht nur auf natürliche Zahlen, sondern auch auf Eigenschaften und Relationen natürlicher Zahlen wirken zu lassen).
Doch angenommen, Gödels Satz käme in einer endgültigen formalen Theorie der Naturgesetze tatsächlich zum Tragen. Was würde das bedeuten? Gödels Satz deckt die Möglichkeit auf, Aussagen über Unendlichkeiten in der Theorie unterschiedlich beantworten zu können. Insofern hätten wir dann keine Theorie, die alle Fragen, die in ihr gestellt werden können, beantworten kann. Die Theorie wäre mathematisch nicht allumfassend. Aber es könnte dennoch sein, dass man in der Theorie alle physikalisch messbaren Wahrscheinlichkeiten prinzipiell berechnen kann, so dass die Theorie physikalisch vollständig, aber mathematisch unvollständig wäre.
Möglicherweise liegen die wichtigen Fragen in einer solchen Theorie aber auch ganz woanders, z.B. in der Interpretation der in der Theorie auftretenden mathematischen Objekte. So könnten sehr schnell oszillierende Lösungen des Gravitationsfeldes in der Theorie auftreten, deren physikalische Interpretation unklar ist, da keine direkte Verbindung zum Messprozess hergestellt werden kann.
Ein letzter Punkt: Es ist es sogar denkbar, dass eine grundlegende physikalische Theorie ihrerseits den Begriff der Berechenbarkeit und damit den der mathematischen Entscheidbarkeit beeinflusst. So könnten neue physikalische Mechanismen Rechnungen ermöglichen, die über das hinausgehen, was eine Turingmaschine leisten kann. Man denke beispielsweise an das Konzept des Quantencomputers, das eine bessere Beschreibung der Welt liefern könnte als das Konzept der Turingmaschine (die Welt als riesiger Quantencomputer ... ).
Die Vermutung liegt nahe, dass Mathematik und Physik noch so manche Überaschung für uns bereithalten. Es bleibt also spannend!
© Jörg Resag, www.joerg-resag.de
last modified on 27 February 2023