Im Jahr 1896 fand der französische Physiker Antoine Henri Becquerel heraus, dass Uran eine besondere Form von Strahlen aussendet, die heute als radioaktive Strahlung bekannt ist. Diese Strahlung konnte fotografische Platten schwärzen, undurchsichtige Materie durchdringen und Luft ionisieren.
Im Jahr 1910 gelang es Ernest Rutherford und seinem Doktoranden Ernest Marsden, den Herkunftsort dieser Strahlung mit ihrem berühmten Streuexperiment aufzuspüren. Die Strahlung kommt aus dem Atomkern, dem winzigen positiv geladenen Zentrum eines jeden Atoms, zehntausendmal kleiner als das Atom selbst. Dieser Atomkern enthält das fast die gesamte Masse des Atoms und ist von den leichten, negativ geladenen Elektronen der Atomhülle umgeben.
Radioaktive Strahlung entsteht, wenn Atomkerne zu viele Protonen und/oder Neutronen enthalten oder sich in einem energetisch angeregten Zustand befinden. Sie versuchen dann beispielsweise, Protonen und Neutronen abzustoßen, Neutronen in Protonen umzuwandeln oder Photonen abzustrahlen.
Im Jahr 1938 entdeckten Otto Hahn (Abb. 2.16) und sein Assistent Fritz Straßmann, dass sich Uran-235-Kerne durch den Beschuss mit Neutronen spalten lassen, wobei sehr viel Energie und weitere Neutronen freigesetzt werden. Diese Neutronen können ihrerseits weitere Urankerne spalten, was eine verheerende Kettenreaktion in Gang setzten kann, wenn man genügend viel Uran-235 zusammenführt, beispielsweise in einer Bombe.
Schon bald nach der Entdeckung der Kernspaltung wurde man sich der gewaltigen Gefahr bewusst, die von einer solchen nuklearen Atombombe ausging. Wäre das nationalsozialistische Deutschland in der Lage, eine solche Bombe zu bauen? Gut möglich – immerhin war die Kernspaltung in Berlin entdeckt worden!
Einige Physiker − unter ihnen auch der in die USA geflohene Albert Einstein − machten den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt auf die Gefahr einer deutschen Atombombe aufmerksam und brachten so den Stein ins Rollen.
Die Vereinigten Staaten waren entschlossen, den Deutschen beim Bau einer Atombombe zuvorzukommen, und starteten das Manhattan-Projekt, in das nach und nach die meisten Physiker der USA einbezogen wurden. Im Jahr 1942 wurde auch Feynman in Princeton angesprochen. Robert (kurz: Bob) Wilson − damals Experimentalphysiker in Princeton − suchte ihn in seinem Büro auf und fragte, ob er an einem hochgeheimen Projekt zum Bau einer Atombombe mitarbeiten wolle. Zuerst war Feynman wenig begeistert, doch dann konnte er der Herausforderung nicht widerstehen und sagte zu.
Worum ging es? Uran kommt in der Natur im Wesentlichen in zwei Varianten bzw. Isotopen vor: Als Uran-235 sowie als Uran-238 mit drei Neutronen mehr − die Protonenzahl ist in beiden Fällen 92, denn sonst wäre es kein Uran.
Die drei zusätzlichen Neutronen im Uran-238 stabilisieren den Atomkern. Entsprechend ist die Halbwertszeit dieses Isotops mit 4,468 Milliarden Jahren recht groß (zufällig ungefähr gleich dem Alter der Erde). Von allen Uran-238-Atomen, die sich auf der Erde befanden, ist also bis heute ungefähr die Hälfte zerfallen.
Uran-235 ist deutlich weniger stabil − seine Halbwertszeit ist mit rund 704 Millionen Jahren etwa sechsmal kleiner als die von Uran-238, sodass sich während der Existenz der Erde die auf ihr befindliche Uran-235-Menge gut sechsmal halbiert hat und heute nur noch 1/64 oder etwas über 1 % ihrer ursprünglichen Menge beträgt. Das in der Natur vorkommende Uran besteht daher zu etwa 99,3 % aus dem stabileren Uran-238 und nur zu 0,7 % aus dem instabileren Uran-235.
Nun ist es aber gerade der instabilere Uran-235-Kern, der sich durch Neutronen spalten lässt. Um eine Atombombe zu bauen, muss man daher den Anteil an spaltbarem Uran-235 künstlich erhöhen − man muss das Uran anreichern. Chemische Methoden kommen dafür nicht in Betracht, denn beide Uranisotope haben dieselbe Elektronenhülle und reagieren damit chemisch gleich.
Man muss die Isotope also physikalisch trennen, indem man ihre leicht unterschiedliche Masse ausnutzt. Glücklicherweise, wie man heute sagen muss, ist das nicht einfach und erfordert einen ziemlich großen technischen Aufwand. Die USA waren bereit, diesen Aufwand zu leisten.
Kaum hatte er seine Doktorurkunde in den Händen, löste Feynman sein Versprechen gegenüber Arline ein und arrangierte ihre Hochzeit gegen den Widerstand seiner und ihrer Eltern. Diese sahen angesichts Arlines schwerer Tuberkulose-Erkrankung keine gemeinsame Zukunft für das junge Paar und fürchteten, Richard könne sich anstecken. Doch Richard und Arline waren anderer Meinung und weigerten sich, pessimistisch in die Zukunft zu sehen. Sie würden eine glückliche gemeinsame Zeit als verheiratetes Paar haben, und sei die Zeit auch noch so kurz!
Um den Bau der Atombombe an einem möglichst abgelegenen und geheimen Ort voranzubringen, hatte man sich dazu entschlossen, in einer abgelegenen kleinen Ortschaft namens Los Alamos in New Mexico nahe bei Santa Fe das Hauptprojekt zu starten, das schließlich die eigentliche Bombe bauen sollte.
Robert Oppenheimer hatte die wissenschaftliche Leitung, und er erwies sich als eine sehr glückliche Wahl. Er sorgte sich um jedes Mitglied seines Teams, und die Leute einschließlich Feynman liebten ihn. So kümmerte er sich auch darum, dass Arline in einem Krankenhaus im etwa 100 Meilen entfernten Albuquerque unterkam, wo Feynman sie so oft wie möglich besuchte.
Nach und nach wurden die Gebäude und Labors fertiggestellt und das Projekt nahm Fahrt auf. Feynman wurde der Theoriegruppe des 12 Jahre älteren Hans Bethe zugeordnet, zu dem er eine enge freundschaftliche Beziehung entwickelte.
Die Zeit in Los Alamos muss für Feynman sehr kräftezehrend gewesen sein, auch wenn er dies in seinen eigenen Büchern und Vorträgen durch viele lustige Anekdoten meist überspielt hat. Man war unter Zeitdruck, denn man wollte den Deutschen zuvorkommen. Es gab sehr viel zu lernen, viele Probleme mussten gelöst und das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Menschen organisiert werden.
Eine von Feynmans Aufgaben war das Organisieren einer Gruppe zur Durchführung umfangreicher numerischer Berechnungen, beispielsweise zur Sprengkraft einer Atombombe. Damals war man noch auf mechanische Rechenmaschinen und später die ersten IBM-Computer mit Lochkarten angewiesen. Immer wieder gab es technische und organisatorische Probleme, doch hier war Feynman in seinem Element – er mochte Computer, und er liebte es, Problemen auf den Grund zu gehen und nicht nachzulassen, bis er eine Lösung gefunden hatte.
Dabei bestand Feynman darauf, dass es für eine effiziente Zusammenarbeit notwendig war, die Leute voll einzubeziehen und ihnen klar zu machen, warum sie das alles taten. Die US-Army verfolgte aus Geheimhaltungsgründen genau den entgegengesetzten Ansatz: Jeder sollte nur das wissen, was er für seine Aufgabe unbedingt wissen muss − das konnte nicht effizient funktionieren. Beispielsweise erzählte Feynman seiner Arbeitsgruppe, die die numerischen Rechnungen durchführte und täglich mit Stapeln von Lochkarten zu kämpfen hatten, wozu ihre Arbeit gebraucht wurde: „We’re fighting a war!“ Damit war der Ehrgeiz der Leute geweckt, sie dachten mit und fanden selbst viele Möglichkeiten, wie sich die numerischen Rechnungen beschleunigen ließen.
Bei all diesen Herausforderungen und angesichts der ständigen Sorge um seine kranke Frau war klar, dass Feynman ein Ventil brauchte. Er fand es, indem er sich beispielsweise kleine Gefechte mit den Zensoren der Army lieferte, die alle ein- und ausgehenden Briefe nach Los Alamos kontrollierten und zensierten − was ziemlich lästig und sogar gesetzeswidrig war und deshalb auf „freiwilliger Basis“ durchgeführt wurde.
Feynman machte sich auch einen Spaß daraus, die Sicherheitskombinationen der Schlösser an den Schränken und Safes seiner Kollegen zu entschlüsseln, in denen sie ihre geheimen Dokumente aufbewahrten, und erwarb sich bald eine gewisse Reputation als Safeknacker
Doch dann holte ihn die Wirklichkeit brutal wieder ein: Arline ging es immer schlechter. Mitte Juni 1945 lieh er sich das Auto von seinem Freund Klaus Fuchs, der später als Spion enttarnt wurde, und fuhr zu ihr, um in ihrer letzten Stunde bei ihr zu sein. Sie schlief sanft ein, ihr Atem wurde immer flacher, bis kein Atem mehr zu spüren war. Sie war nur 25 Jahre alt geworden.
Wie tief Feynmans Trauer um Arline über eine lange Zeit hinweg gewesen sein muss, wird aus einem Brief klar, den er am 17. Oktober 1946 − also 16 Monate nach ihrem Tod − an Arline schrieb, in einen Umschlag steckte und verschloss. Erst nach seinem Tod fand man den Brief in seinem Nachlass. Es ist ein sehr privater Brief, der einem ans Herz geht, und man traut sich kaum, ihn zu lesen. Heutzutage findet man ihn im Internet, beispielsweise bei http://www.lettersofnote.com.
Der einfühlsame Bethe merkte, dass Feynman nach Arlines Tod dringend eine Pause brauchte, und schickte ihn nach Hause zu seinen Eltern nach Long Island. Rund vier Wochen später erhielt er dort ein verschlüsseltes Telegramm, das ihn nach Los Alamos zurückrief. Am 15. Juli traf er dort ein, und kurz darauf wurden er und seine Kollegen zu einer verlassenen Wüstengegend gefahren, in der in den Morgenstunden des 16. Juli 1945 der erste Atombombentest stattfinden sollte: der Trinity-Test.
Feynman gehörte zu der Gruppe, die sich 20 Meilen (32 km) vom Explosionsort entfernt befand. Die Bombe explodierte mit einer Sprengkraft von rund zwanzigtausend Tonnen TNT. Der Lichtblitz war so grell, dass Feynman sich unwillkürlich duckte und einen violetten Fleck als Nachbild auf dem Fußboden sah. Dann sah er, wie das grellweiße Licht langsam schwächer wurde und seine Farbe ins Gelbliche und dann ins Orangefarbene wechselte. Wolken formten sich aus dem Nichts und verschwanden wieder als Folge der durchlaufenden Druckwelle. Schließlich stieg eine große orangefarben glühende Kugel empor und formte den bekannten Atompilz. Es hatte tatsächlich funktioniert!
Alle waren hellauf begeistert. Es wurde gefeiert, getrunken, getanzt und viel gelacht. Aber ein Mann fiel Feynman auf, der dabei nicht mitmachte. Es war Bob Wilson, der Feynman vor drei Jahren überredet hatte, beim Bau der Bombe mitzuhelfen, und der nun trübsinnig dasaß. „It’s a terrible thing that we made“ (Es ist ein furchtbares Ding, das wir erschaffen haben), sagte er. Erst da realisierte Feynman, was geschehen war: Sie hatten aus guten Gründen angefangen, die Bombe zu bauen, und sie hatten hart daran gearbeitet, das Projekt zum Erfolg zu führen. Es war anstrengend und aufregend gewesen, und sie hatten aufgehört zu denken. „And you stop thinking, you know; you just stop”, schreibt Feynman.
Am 6. August 1945 wurde eine erste Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen, und drei Tage später eine zweite Atombombe über Nagasaki. Feynman glaubte daraufhin, dass ein vernichtender Atomkrieg irgendwann nahezu unvermeidlich sei. Warum noch irgendetwas aufbauen? Warum noch die grundlegenden Gesetze der Natur erforschen? Dieses Gefühl der Sinnlosigkeit sollte Feynman noch viele Monate begleiten.
last modified on 30 August 2017