Feynman war nicht der Einzige, dem die relativistische Berechnung der Lamb-Shift nach der Konferenz auf Shelter Island gelang. Auch andere konnten relativistisch rechnen, wenn auch mit umständlicheren Methoden, deren Verträglichkeit mit der Relativitätstheorie weniger offensichtlich war als bei Feynman.
Den größten Einfluss unter diesen Physikern hatte wohl Julian Schwinger. Er war genauso jung wie Feynman − nur drei Monate älter − und hatte bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Physik erreicht, während Feynman noch relativ unbekannt war. Wie Feynman war auch Schwinger schon in jungen Jahren sehr talentiert und brachte sich vieles selber bei. Dabei hatten beide ihren eigenen Kopf und ließen sich nicht gerne etwas vorschreiben.
Schwinger war Perfektionist und liebte es, seine Theorien mathematisch möglichst allgemein und elegant zu formulieren. Er war ein Meister darin, mit mathematisch abstrakten Formalismen virtuos zu hantieren, hängte dabei allerdings oft seine Zuhörer ab, sodass diese den Eindruck hatten, nur Schwinger selbst sei in der Lage, seinen umfangreichen mathematischen Apparat zu beherrschen. Man vertraute seinen Theorien, konnte sie aber nur mit großer Mühe nachvollziehen.
Die Berechnung der Lamb-Shift durch Hans Bethe hatte bereits kurz nach der Konferenz gezeigt, dass es funktionieren könnte. Schwinger machte sich an die Arbeit und es gelang ihm tatsächlich, Ende 1947 das magnetische Moment des Elektrons − also den g-Faktor − näherungsweise zu berechnen, wobei er ähnlich wie Feynman die Ideen der Renormierung anwandte, um die Unendlichkeiten loszuwerden. Die Näherungsformel, die er in zweiter Ordnung erhielt, ist recht einfach. Sie lautet
wobei α ≈ 1/137 die Feinstrukturkonstante, also die quadrierte Ladung des Elektrons in natürlichen Einheiten ist. Mit dieser Formel kann man den experimentell gemessenen g-Faktor des Elektrons bereits auf fünf Stellen genau reproduzieren − ein Riesenerfolg für Schwinger!
Auch Feynman erhielt etwas später dasselbe Resultat für den g-Faktor wie Schwinger. Leider nahm zu dieser Zeit kaum jemand Feynman und seine eher intuitiven Methoden ernst, während man Schwinger kannte und seinen komplizierten Rechnungen vertraute. Allerdings war kaum jemand imstande, Schwingers Rechnungen im Detail nachzuvollziehen.
Die erste Gelegenheit für Feynman, seinen ungewöhnlichen Zugang zur QED zu erklären, kam auf der sogenannten Pocono-Konferenz, die Anfang April 1948 im Pocono Manor Inn im Nordosten von Pennsylvania stattfand. Diese Konferenz knüpfte an die Shelter-Island-Konferenz vom Vorjahr an, auf der Rabi und Lamb ihre experimentellen Resultate zu Lamb-Shift und g-Faktor verkündet hatten.
Als erstes war Schwinger am Zug. Er hielt einen wahren Marathon-Vortrag, in der er seinen mathematisch ausgeklügelten Zugang zur QED detailliert darlegte und zeigte, wie sich damit Lamb-Shift und g-Faktor berechnen ließen und wie die Renormierung dabei funktionierte.
Nach Schwingers Vorlesung war Feynman an der Reihe − sein Vortrag trug den Titel Alternative formulation of quantum electrodynamics. Doch es lief nicht besonders gut für Feynman. Die Zuhörer waren von Schwingers Vortrag bereits ziemlich erschöpft und hatten Schwierigkeiten, sich auf Feynmans ungewohnte Gedankengänge einzulassen. Immer wieder wurde er unterbrochen und es gelang Feynman nicht, seine Ideen verständlich zu vermitteln. „Meine Maschinen kamen von zu weit her – es war eine hoffnungslose Präsentation“ erinnert er sich später.
Ein anderer wäre nach so einer Pleite vielleicht entmutigt gewesen und hätte aufgegeben, doch das war nicht Feynmans Art. Ihm war nun klar, was zu tun war: Er musste in den sauren Apfel beißen und seine Theorie sauber aufschreiben und veröffentlichen − eine Arbeit, die er hasste. Aber nur so hatten andere Physiker die Möglichkeit, sich alles in Ruhe anzuschauen und zu verstehen.
Dafür beschäftigte sich Feynman noch einmal intensiv mit seinen Methoden und testete sie an den verschiedensten Problemen. Schritt für Schritt vervollkommnete er sie und erschuf schließlich einen sehr effektiven Werkzeugkasten, wie ihn zu dieser Zeit niemand sonst besaß. Wie überlegen seine Methoden tatsächlich waren, wurde ihm beim nächsten großen Treffen der American Physical Society (APS) im Januar 1949 in New York klar. Dort präsentierte ein junger Physiker namens Murray Slotnick die Ergebnisse einer Rechnung, für die er sechs Monate gebraucht hatte.
Feynmans rechnete mit seinen Methoden über Nacht aus, wofür Slotnick Monate gebraucht hatte. Slotnick fiel aus allen Wolken. Auch den anderen Konferenzteilnehmern blieb nicht verborgen, was Feynman da geleistet hatte. Spätestens jetzt drängten ihn alle, seine Methoden zu veröffentlichen.
Das war aber gar nicht so einfach. Feynman besaß kein solides theoretisches Fundament, aus dem sich seine Werkzeuge direkt ableiten ließen. Wie konnte man wirklich sicher sein, dass Feynmans Methode in sich stimmig war? Na was soll's, dachte Feynman − schließlich lieferte seine Methode die richtigen Ergebnisse!
Jemand anderes wollte sich mit dieser pragmatischen Sichtweise allerdings nicht zufriedengeben: der junge britische Physiker und Mathematiker Freeman Dyson.
Feynman und Dyson besaßen viele Gemeinsamkeiten: Beide waren geniale Wissenschaftler und zugleich Freigeister, die sich für die unterschiedlichsten Themen begeistern konnten, was bei Dyson auch die Mathematik einschloss.
Dyson beschäftigte sich intensiv mit den Ansätzen von Schwinger und Feynman. Dabei geriet er immer wieder in intensive Diskussionen mit Feynman. Als Mathematiker störte es ihn enorm, dass Feynmans Methode kein mathematisches Fundament besaß. „Du musst die Mathematik richtig hinbekommen. Es genügt nicht, die richtigen Ergebnisse ausrechnen zu können!“ sagte er immer wieder zu ihm. Und da Feynman wenig Lust dazu verspürte, nahm Dyson sich vor, es selbst zu versuchen: Feynmans Methode musste unbedingt in eine Sprache übersetzt werden, die auch der normale Physiker verstand − sie brauchte eine solide mathematische Grundlage. Raten und Intuition allein genügten nicht.
Zudem war bekannt geworden, dass es noch einen dritten erfolgreichen Zugang von einem japanischen Physiker namens Shin’ichiro Tomonaga gab. Passten die Methoden von Schwinger, Feynman und Tomonaga irgendwie zusammen?
Durch Schwinger, Feynman und Tomonaga war also nun der Welt dreimal gesagt worden, dass die QED funktioniert, nur jedes Mal in einer anderen Sprache. Es musste eine Übersetzung zwischen diesen Formulierungen geben, und Dyson war entschlossen, sie zu finden. Niemand sonst auf der Welt kannte alle drei Methoden so gut wie er. Im September 1948 hatte er während einer mehrtägigen Busfahrt von San Francisco nach Chicago viel Zeit, darüber nachzudenken, und plötzlich fügte sich in seinen Gedanken alles zu einem konsistenten Gesamtgebilde zusammen. Alle drei Methoden ließen sich zu einer einzigen Theorie vereinen, wenn man sie erst einmal in eine gemeinsame Sprache übersetzte. Es war genau die Sprache, die Feynman vermieden hatte: die Mathematik der Quantenfeldtheorie. Dyson kannte sich darin bestens aus und so gelang es ihm, alle drei Ansätze damit auszudrücken
Nun war endlich klar, dass auch Feynmans Methoden ein solides Fundament hatten und mathematisch sauber waren − ein wahrer Durchbruch für Feynman. Man konnte seinen Methoden genauso vertrauen wie den Methoden von Schwinger und Tomonaga, denn sie alle waren nur verschiedene Formulierungen derselben Theorie. Dabei hatte Feynmans Methode den großen Vorteil, dass man mit ihr hervorragend rechnen konnte
Als im April 1949 auf dem Landgut Oldstone-on-the-Hudson in Peekskill (New York) eine Nachfolgekonferenz von Shelter-Island und Pocono stattfand, wurde sie zum Triumph für Feynman und Dyson. Feynmans Methoden haben sich seitdem nicht nur in der QED, sondern in der gesamten Quantenfeldtheorie durchgesetzt, und es gibt kaum eine Veröffentlichung in diesem Umfeld, in der nicht das eine oder andere Feynman-Diagramm zu sehen ist.
last modified on 10 September 2017