Kapitel 4
Kalifornien, eiskaltes Helium und die schwache Wechselwirkung

2  Physik bei tiefen Temperaturen

Zusammenfassung des Buchkapitels:



Zusatzinformationen:

a) Suprafluides Helium als Bose-Einstein-Kondensat
b) Landaus Erklärung für die Suprafluidität von flüssigem Helium
c) Helium als Quantensystem



a) Suprafluides Helium als Bose-Einstein-Kondensat

Um die Frage zu klären, ob bei Helium trotz der Wechselwirkungen zwischen den Atomen ein Bose-Einstein-Kondensat möglich ist, betrachtete Feynman in seiner Veröffentlichung Atomic Theory of the λ Transition in Helium aus dem Jahr 1953 die sogenannte kanonische Zustandssumme, aus der sich alle thermodynamischen Eigenschaften von Helium berechnen lassen:

Dabei ist β = 1/kT mit der Boltzmann-Konstante k und der Temperatur T. Die Summe geht über alle Quantenzustände des flüssigen Heliums, die mit dem Index n durchnummeriert werden, wobei En die Energie des n-ten Zustands ist. Hier sind nicht etwa die recht einfachen Quantenzustände eines einzelnen Helium-Atoms gemeint, sondern die sehr komplexen Quantenzustände des Gesamtsystems aus sehr vielen Helium-Atomen. Es ist daher praktisch ausgeschlossen, diese Zustandssumme jemals exakt berechnen zu können.

Feynman ersann nun den folgenden Trick, um dennoch etwas über die Zustandssumme aussagen zu können: Er formulierte sie in ein spezielles Pfadintegral um, dessen mathematischen Kern wir so interpretieren können, als würden sich die Heliumatome alle in einer Zeitspanne von Null bis β von ihrem jeweiligen Ursprungsort fortbewegen und am Ende wieder an ihrem Ursprungsort ankommen, wobei auch Vertauschungen von Atomen erlaubt sind, denn die Atome sind quantenmechanisch ununterscheidbar.

Jede Ausgangs-Konfiguration der Helium-Atome und jede Bewegungsform, die bei dieser Ausgangs-Konfiguration startet und zur Zeit β dort wieder endet, stellt einen Pfad des Gesamtsystems im Pfadintegral dar. Dabei wird jeder Pfad mit einem Faktor gewichtet, der exponentiell mit der Gesamtenergie E abnimmt, die alle Heliumatome zusammen während der Bewegung im Mittel aufweisen. Diese mittlere Gesamtenergie E muss also möglichst kein sein, damit ein Pfad einen relevanten Beitrag liefert. Dafür dürfen sich die Heliumatome nicht zu nahe kommen, denn sonst steigt durch ihre gegenseitige Abstoßung die potentielle Energie − sie müssen sich also gegenseitig ausweichen. Sie dürfen sich in der Zeitspanne β auch nicht zu weit bewegen und damit zu schnell werden, denn sonst wächst ihre Bewegungsenergie zu stark an.

Man erhält eine gute Näherung für die Zustandssumme, wenn man nur die wichtigen Pfade mit kleinem E im Pfadintegral berücksichtigt. Mithilfe weiterer Zusatzüberlegungen erhielt Feynman so schließlich einen expliziten Näherungs-Ausdruck für die Zustandssumme. Aus ihr konnte er ablesen, dass sich die Heliumatome in flüssigem Helium näherungsweise als freie Teilchen mit veränderter Masse beschreiben lassen und dass es unterhalb einer bestimmten Temperatur zu einer Bose-Einstein-Kondensation kommt.



b) Landaus Erklärung für die Suprafluidität von flüssigem Helium

Wenn eine massive Kugel der Masse M und Geschwindigkeit v auf ihrem Weg durch das flüssige Helium eine kleine Energiemenge ΔE verliert, so ist wegen E = P2/(2M) damit eine kleine Impulsänderung ΔP verbunden. Da diese Impulsänderung ΔP deutlich kleiner als der Impuls P der Kugel sein soll, können wir quadratische Terme in ΔP vernachlässigen und erhalten

wobei wir die Beziehung P = M v verwendet haben. Je kleiner die Kugelgeschwindigkeit v also ist, umso größer muss die Impulsabgabe ΔP sein, um eine bestimmte Energieabgabe ΔE sicherzustellen. Wenn der Energie- und Impulsverlust der Kugel durch die Erzeugung einer Quantenanregung mit Energie ε und Impuls p zustande kommen soll, so muss ΔE = ε und ΔP = p sein. Setzen wir dies in die Formel ein und stellen nach der Kugelgeschwindigkeit v frei, so erhalten wir

v = ε / p

Diese Bedingung muss die Kugelgeschwindigkeit erfüllen, damit die Quantenanregung im flüssigen Helium neu entstehen kann und die Kugel dadurch Energie und Impuls verliert (genau genommen darf v auch größer sein, wenn der Impuls der Quantenanregung nicht in dieselbe Richtung wie die Kugelbewegung zeigt − die obige Bedingung gibt also eine Mindestgeschwindigkeit für die Kugel an). Bei Phononen sind Energie und Impuls über die Beziehung

ε = p c

miteinander verknüpft − ganz analog zu Photonen, nur dass bei Phononen c nicht die Lichtgeschwindigkeit, sondern die Schallgeschwindigkeit im flüssigen Helium ist. Die Kugel müsste demnach mindestens mit Schallgeschwindigkeit durch das Helium flitzen, um Energie durch die Erzeugung von Phononen zu verlieren. Noch extremer ist die Situation bei der Anregung von Rotonen, denn diese können sogar den Impuls p = 0 aufweisen und trotzdem eine Mindestenergie ε tragen, sodass formal die Kugel in diesem Fall sogar unendlich schnell sein müsste.



c) Helium als Quantensystem

Wie kann man sich eine Quantenbeschreibung von flüssigem Helium vorstellen? In der klassischen Physik würde man einfach angeben, wo sich jedes einzelne Helium-Atom zu jeder Zeit befindet und wie es sich bewegt. Atom 1 wäre beispielsweise am Ort x1, Atom 2 am Ort x2 und so weiter. Quantenmechanisch geht das aber nicht mehr − auch bei einem Elektron in einem Wasserstoffatom kann man ja beispielsweise nicht mehr sagen, wo es sich zu jeder Zeit befindet. Man kann nur jedem möglichen Elektronen-Ort x eine Quantenamplitude ψ(x) zuordnen, deren Betragsquadrat die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, das Elektron bei einer Ortsmessung an diesem Ort anzutreffen. Die Quantenamplitude wollen wir uns dabei etwas vereinfacht als reelle Zahl vorstellen, die positive und negative Werte annehmen kann (streng genommen ist es eine komplexe Zahl, die man sich als Pfeil vorstellen kann, aber das brauchen wir hier nicht).

Für die quantenmechanische Beschreibung von flüssigem Helium muss man analog jeder Ortskonfiguration x1, x2, ... der Heliumatome eine gemeinsame Quantenamplitude ψ(x1, x2, ... ) zuordnen, deren Betragsquadrat die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, bei einer Ortsmessung die Helium-Atome an den entsprechenden Stellen x1, x2 und so weiter anzutreffen. Die Helium-Atome werden also quantenmechanisch nicht einzeln durch je eine eigene Quantenamplitude beschrieben, sondern es gibt nur eine gemeinsame Amplitude für das Gesamtsystem aus allen Helium-Atomen. Das Ganze ist in der Quantenmechanik mehr als die Summe seiner Teile!

Dabei kann es keine Rolle spielen, welches Helium-Atom man am Ort x1 und welches am Ort x2 etc. findet, denn die Helium-Atome sind quantenmechanisch ununterscheidbar. Die Wahrscheinlichkeit, beispielsweise Atom 1 am Ort x1 und Atom 2 am Ort x2 zu finden, muss genauso groß sein wie die umgekehrt. Vertauscht man also zwei beliebige Orte in der Wellenamplitude, so muss deren Betragsquadrat unverändert bleiben. Die Wellenamplitude kann also beim Vertauschen entweder ebenfalls unverändert bleiben, oder aber sie kann ihr Vorzeichen wechseln, denn dieses fällt beim Quadrieren wieder weg.

Der erste Fall ohne Vorzeichenwechsel gilt bei Bosonen, also bei allen Teilchen mit ganzzahligem Spin. Unsere Helium-4-Atome gehören zu dieser Kategorie, wie wir wissen. Der zweite Fall mit Vorzeichenwechsel gilt bei Fermionen, also bei Teilchen mit halbzahligem Spin wie Elektronen, Protonen oder Neutronen.

Um die Wellenfunktion von flüssigem Helium − also die Quantenamplituden für alle möglichen Konfigurationen der Heliumatome − auszurechnen, muss man im Prinzip die entsprechende Schrödingergleichung lösen. Das ist schon bei wenigen Teilchen schwierig. Bei den unzähligen Teilchen in einer Flüssigkeit ist es praktisch unmöglich.

Feynman begann daher, sich aufgrund allgemeiner physikalischer Überlegungen ein Bild davon zu machen, wie diese Wellenfunktion aussehen könnte. Dabei hilft uns die Vorstellung einer schwingenden Gitarrensaite weiter: Bei der Schwingung mit der niedrigsten Energie gibt es in der Mitte eine große Schwingungsamplitude, die zu den Rändern hin immer kleiner wird. Das ist die Grundschwingung, mit der eine Gitarrensaite normalerweise schwingt. Zupft man die Saite aber geschickt an, so kann man auch Oberschwingungen erzeugen, bei denen es mehr als einen Schwingungsbauch gibt, die von dazwischenliegenden Knotenpunkten getrennt werden. Diese Oberschwingungen tragen umso mehr Energie, je mehr Schwingungsbäuche sie besitzen und je kürzer die Schwingungsbäuche damit sind.


Grundschwingung und die ersten beiden Oberschwingungen einer Gitarrensaite.

Analog ist es auch bei der Wellenfunktion des flüssigen Heliums, wobei wir uns jeden Ort x auf der Gitarrensaite durch eine komplette Ortskonfiguration x1, x2 etc. sämtlicher Heliumatome ersetzt denken müssen.

Im quantenmechanischen Grundzustand der Helium-Flüssigkeit gibt es auch hier nur einen Schwingungsbauch und keine Knotenpunkte. Die Wellenamplitude ψ ist also für alle Konfigurationen zu einem bestimmten Zeitpunkt beispielsweise positiv. Dabei ist die Amplitude für diejenigen Konfigurationen am größten, bei denen die Heliumatome einen gleichmäßigen mittleren Abstand voneinander haben und sich die anziehenden und abstoßenden Kräfte zwischen ihnen ausgleichen. Diese Konfigurationen sind also am wahrscheinlichsten − sie bilden gewissermaßen die Mitte der Gitarrensaite. Andere Konfigurationen mit ungleichmäßiger Verteilung der Atome sind dagegen unwahrscheinlicher, haben also eine kleinere Amplitude − sie entsprechen Orten am Rand der Gitarrensaite.

Die angeregten Zustände entsprechen nun den Oberschwingungen der Gitarrensaite. Es muss also Konfigurationen mit positiver und mit negativer Amplitude geben, und es muss sogar Konfigurationen mit Amplitude Null geben, die den Knotenpunkten entsprechen.

Wie sehen nun die Quantenzustände mit möglichst niedriger Energie aus, die den Phononen von Landau entsprechen?

Auf der Gitarrensaite ist die Schwingungsenergie umso niedriger, je weniger Schwingungsbäuche es gibt, sodass diese Schwingungsbäuche möglichst weit auseinanderliegen. Analog müssen wir vorgehen, um die energetisch tief liegenden Anregungszustände im flüssigen Helium zu finden. Wir müssen für die Platzierung der Schwingungsbäuche Konfigurationen der Heliumatome finden, die möglichst weit auseinanderliegen. Das tun sie, wenn viele Atome eine große Strecke versetzt werden müssen, um von einer Konfiguration zur anderen zu gelangen, wobei sie natürlich den Rand der Flüssigkeit − also den Gefäßrand oder die Oberfläche − nicht überschreiten dürfen. Außerdem sollte sich die mittlere Dichte der Atome dabei nicht zu stark ändern, da stark zusammengequetschten Konfigurationen zu unwahrscheinlich sind und eine zu niedrige Amplitude haben − wir wollen schließlich einen Schwingungsbauch dort platzieren.

Eine einfache Idee wäre es, die Flüssigkeit in zwei Hälften zu teilen und die Atome links und rechts miteinander zu vertauschen. Sehr viele Atome wären dann weit versetzt worden. Es gibt nur ein Problem: Da die Atome quantenmechanisch ununterscheidbar sind, wäre die neue Konfiguration dieselbe wie die alte und muss auch dieselbe Amplitude haben. So erhält man also keine weit auseinanderliegenden Konfigurationen.

Feynman dachte gründlich über dieses Problem nach und kam zu dem Schluss, dass man am Weitesten kommt, wenn man sehr viele Atome nur ein kleines Stück versetzt, so dass es zu einer leichten Veränderung der mittleren Dichte kommt. Bewegt man die Atome zu weit, so wird entweder die Dichteschwankung zu groß und damit zu unwahrscheinlich für einen Schwingungsbauch, oder einige der eingeengten Atome müssen an die nun leeren Stellen der ursprünglichen Atome treten. Das entspricht dann aber nahezu einer Vertauschung der Atome, und Vertauschungen ändern die Konfiguration nicht. Ähnlich ist es, wenn man eine neue Konfiguration dadurch herstellt, dass man die Atome gewissermaßen umrührt, ohne dabei die mittlere Dichte zu verändern. Da die Atome nicht unterscheidbar sind, sieht die neue Konfiguration fast so aus wie die ursprüngliche, ist also von dieser nicht allzu weit entfernt.

Die schwachen großräumigen Dichteschwankungen ergeben also die am weitesten voneinander entfernten Konfigurationen, die wir für die Schwingungsbäuche der niedrigsten Quanten-Oberschwingungen betrachten müssen. Solche Dichteschwankungen lassen sich immer aus Schallwellen zusammensetzen, d.h. die energetisch am tiefsten liegenden Quantenanregungen entsprechen der quantenmechanischen Beschreibung von Schallwellen im flüssigen Helium. Diese Quantenzustände sind genau die Phononen, die uns oben bereits begegnet sind. Damit hatte Feynman die Vermutung von Landau bestätigt und auf eine solide Basis gestellt.

Landau hatte noch eine zweite Sorte von Quantenanregungen gefordert, zu deren Erzeugung eine gewisse Mindestenergie erforderlich ist: die Rotonen. Sie müssen anderen Veränderungen der Konfigurationen entsprechen, bei denen sich die mittlere Dichte nicht ändert, denn diesen Fall hatten wir mit den Phononen ja schon erfasst. Diese Konfigurationen liegen nach den obigen Überlegungen enger zusammen als diejenigen mit ausgedehnten Dichteschwankungen. Daher können auch die Schwingungsbäuche und Knoten der Quantenamplitude für diese Konfigurationen nicht so weit auseinanderliegen, was einer höheren Schwingungsenergie der Quantenwelle entspricht. Das passt gut zu der von Landau geforderten Mindestenergie der Rotonen.



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last modified on 27 September 2017